Film Wichteln #5

So, das war also Orson Welles lange unvollendeter Film, dessen sich Netflix angenommen hatte, um ihn prestigeträchtig in Venedig (eigentlich Cannes, aber dort gab es Zoff mit den Veranstaltern) der Welt als Erbe des großen Genies zu präsentieren. Normalerweise würde ich mich jetzt im Anschluss auf die von Netflix als Begleitwerk produzierte Dokumentation IHR WERDET MICH LIEBEN, WENN ICH TOT BIN stürzen und ausgiebig recherchieren, um dann eine Besprechung zu erarbeiten und auszuformulieren. Doch das lasse ich in diesem Fall mal, was nicht (nur) terminliche Gründe hat. Denn THE OTHER SIDE OF THE WIND erweist sich als doppelbödiger Meta-Film, der zwar genauso viel Spielraum für Analyse und Interpretation bietet, aber in seiner eigenen Direktheit geradezu nach ersten Gedanken und ungefilterten Eindrücken schreit.

Es beginnt alles im Stile einer Mockumentary über den letzten Tag im Leben des streitbaren, aber während der Golden Era immens erfolgreichen Regisseurs Hannaford, verkörpert vom großen John Huston, der vor seinem Unfalltod von einem Dokumentarfilmer und seiner Crew begleitet wurde. Die ersten Minuten des Films sind eine Collage aus Interviewschnipseln und kurzen Aufnahmen des Teams. Wir lernen hier Hannaford, der sich noch wortkarg gibt, sowie einige Leute aus seinem Umfeld kennen. Der Film schwenkt dann im Laufe der Zeit immer mehr von einer dokumentarischen zu einer Spielfilm-Perspektive um. Da während der Handlung zwar immer das Team mit seinen Kameras vor Ort ist, aber viele Szenen eben auch die Perspektive des allwissenden Erzählers, bzw. allessehenden Beobachters einnehmen, schleicht sich unmerklich immer mehr eine Spielfilm-Struktur in die im Stile einer Dokumentation erzählte Handlung, die überdies durch eine noch übergeordnete Erzählerstimme begleitet wird.
John Huston als Hannaford tritt anfangs eigentlich mehr am Rande auf und bleibt dabei auch gänzlich stumm. Dem ersten Handlungsteil, die Vorführung seines unfertigen Comeback-Films THE OTHER SIDE OF THE WIND (okay, da drückt Welles schon ein wenig dick auf) mit einem potenziellen Geldgeber, bleibt er dann auch gleich ganz fern. Danach geht es dann zur Feier seines 70ten Geburtstags, wo neben dem Filmteam auch Reporter anwesend sind, denn hier geben sich Freunde, Kollegen und alte Weggefährten des Regisseurs die Klinke in die Hand. Hier sticht Susan Strasberg, die Tochter des legendären Schauspiellehrers Lee Strasberg, als Journalistin Juliet Rich hervor, die nie um einen sarkastischen Kommentar verlegen ist und Hannaford im Laufe des Films mit immer unbequemeren Fragen konfrontiert. Die zweite wichtige Frau vor Ort ist Zarah Valeska – die Lebensgefährtin des Geburtstagskindes wird von Lili Palmer dargestellt. Und auch der Gastgeber selbst rückt hier immer weiter in den Mittelpunkt, meist begleitet von seinem Protegé Brooks Otterlake, ein aufstrebender Regisseur (Peter Bogdanovich), der wie Lakai des alten Meisters wirkt und dem in der Kritik wohl immer wieder vorgeworfen wird, wie ein Plagiat seines Vorbilds zu wirken, wenn auch dabei äußerst erfolgreich.

Als großer Höhepunkt des Abends wird auch hier die erste, unfertige Version von THE OTHER SIDE OF THE WIND vorgeführt. Zu diesem Zeitpunkt springt der Film dann komplett vom dokumentarischen Ansatz in den Film-im-Film, der allerdings weit weniger erzählerische Kohärenz beweist, als das gesamte Werk bis hierhin. Aber auch die Vorführung an sich gestaltet sich als böses Omen, denn zweimal verreckt der Stromgenerator, und so bleibt zu diesem Zeitpunkt nicht nur der Film unvollendet, sondern sogar die Vorführung des selbigen. Zum Schluss verlegt man den Rest der Vorführung schließlich in ein nahe gelegenes Autokino. Doch zu diesem Zeitpunkt sind schon zu viele alte Wunden aufgerissen, neue Konflikte eröffnet und der Fokus aller Anwesenden somit ganz woanders.
Das ist aber nur der grobe Handlungsverlauf, den Orson Welles nutzt, um gleich mannigfaltig Themengebiete abzuklappern, Diskurse zu eröffnen und auch mal mittendrin niederzulegen. Es geht um den Generationenkonflikt im Filmgeschäft, um das Verhältnis von Kunst und Kommerz, Geld und Freundschaft, und so vieles mehr. Welles porträtiert die Filmschaffenden, aber auch die Presse, wenig schmeichelhaft – seine Welt ist bevölkert von Finanzhaien, Günstlingen und Diven, und gerade die Leute vom Film definieren sich und andere vor allem durch rassistische Klischees, die man hier im Minutentakt um die Ohren gefeuert bekommt. Auch die Hauptfigur Hannaford, bei deren Darstellung John Huston sichtlich diebischen Spaß hatte, was den Film schon fast alleine trägt, ist ein eitler Manipulator, dem hier von einigen seiner Gäste gnadenlos der Spiegel vorgehalten wird, während er selbst nach jedem Strohhalm greift, um die Fertigstellung seines Films zu finanzieren, aber es sich auch nicht nehmen lässt, jeden kleinen Fisch, der in seinem Haifischbecken schwimmt, zu fressen und unverdaut wieder auszuspucken. Und genau dieses Verhalten, das er auch dem jungen Star seines neuen Films, den naiven, aber hoffnungsvollen Newcomer Oscar „John“ Dale (den richtigen Vorname des Jungen meidet Hannaford wie der Teufel das Weihwasser) spüren lässt, trägt schuld an der Aussetzung der Dreharbeiten, da der Regisseur es damit schaffte, ihn derart zu erniedrigen, dass der Junge vom Set floh.

Orson Welles schien hier seinen zweiten (oder eher dritten) Frühling zu erleben, der Film wirkt frisch, für seine Zeit unglaublich innovativ und hat sein Ohr ganz am Puls der Zeit, nur um diesen in seinem ureigenen Zynismus zu ertränken. Die Sprache ist derb, der Film-im-Film psychedelisch und sehr freizügig. Gerade der teils unmerkliche Wechsel zwischen Mockumentary und Spielfilm, der dann auch noch übergangslos immer wieder im Film-im-Film mündet, ist teils meisterhaft arrangiert. Die großartigen Darsteller wie Strasberg, Palmer und Huston, aber auch Cameron Mitchell und Norman Foster, wie auch die wunderschöne Kroatin Oja Kodar, die eine Menge Sexappeal in den Film bringt und nebenher mit Welles am Drehbuch schrieb, und dann noch Cameos von u.a. Claude Chabrol, Dennis Hopper und Paul Mazursky, dieses große Ensemble sorgt dafür, dass sich die ganze Chose organisch, nicht nur in den Verflechtungen untereinander, sondern auch als im Hintergrund agierender Teil der Kulisse, lebendig anfühlt.
THE OTHER SIDE OF THE WIND vereint die raue Poesie eines Hemingway mit der Scharfzüngigkeit der französischen Novelle Vague und bildet daraus eine bissige, ätzende, aber auch sehr reichhaltige und selbstreflexive Showbiz-Satire. Man merkt, dass sich Welles seines Rufes, seines teils selbst an den Tag gelegten, unausstehlichen Gehabes wohl bewusst war, und sich vieles davon in Hannaford widerspiegelt. Und tatsächlich sollte ja auch die immer wieder abgebrochene Vorführung des unfertigen Filmes im Film ein böses Omen für dieses von Welles als Comeback geplantes Werk selbst werden, da er von ihm selbst zu Lebzeiten nie vollendet werden konnte. Und hier darf natürlich auch die Frage erlaubt sein, ob die nun vollendete Version des Films der Intention und des Genies von Orson Welles gerecht werden kann. Wie im Falle von IM ZEICHEN DES BÖSEN kann man nur antworten, dass man sich anhand akribischer Recherche und ausgedehnter Materialsichtung höchstens daran annähern konnte und kann. Doch letztlich steht ein Film erst einmal für sich, und da kann THE OTHER SIDE OF THE WIND auf ganzer Linie überzeugen (gut, manches gewählte Musikstück wirkt ein wenig beliebig). Alles, was da noch mit dranhängt, kann man sich nur im Diskurs annähern. Und dazu sind halt Filme auch da.


Übersicht aller Filme aller Zeiten auf apokalypsefilm.com/wichteln

Wichtelfilm wurde ausgewählt von Lufio

Text wurde geschrieben von The Home of Horn

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